Geschichte & Geschichten

Tradition der Innovation

Das Haus in der Bülowstraße 90 blickt auf 125 Jahre bewegter Geschichte zurück. Bekannt wurde es als Sitz des S. Fischer Verlages, als Ort der Kunst und Künstler und Ort der Innovation.

Die Geschichte des Hauses ist eng verknüpft mit den Lebenswegen jüdischer BewohnerInnen und EigentümerInnen, die in der NS-Zeit verfolgt und vertrieben wurden. Nun wird das Haus unter Berücksichtigung der eindrucksvollen Geschichte komplett saniert.

1882

In den 1880er Jahren wurde die Bülowstraße als Teil des sogenannten „Hobrechtplans“ ausgebaut. Der nach dem preußischen Stadtplaner James Hobrecht benannte Bebauungsplan sah einen repräsentativen Straßenzug im Süden Berlins vor.

Auf dem als Holz- und Kohlenplatz genutzten Grundstück Bülowstraße 90 standen damals mehrere Schuppen. 1882 wurden ein Treibhaus und ein Keimentwicklungshaus für einen Gärtner errichtet.

Bild: Siemens-Historical-Institute

1896

1896, mitten im Gründerzeitboom, baute die „Actien-Gesellschaft für
Bauausführungen“ das heute erhaltene Gebäude, in das sie 1912 ihren Geschäftssitz verlegte.

Im Vorderhaus waren zwei Geschäfte im Erdgeschoss vorgesehen, im Obergeschoss äußerst großzügige Wohnungen, welche von Bankiers, Kaufleuten, einem Fabrikdirektor und einem Rittmeister bewohnt wurden und durch ein repräsentatives Marmortreppenhaus erschlossen wurden. In den schmalen Seitenflügeln waren Küchen, Kammern und Dienstbotenzimmer untergebracht, im Quergebäude weitere Wohnungen und Büros.

Der relativ großzügig bemessene Innenhof war begrünt, hinter dem Quergebäude wurde ein großer Garten mit Zierbeeten und einem Spiel- bzw. Tennisplatz angelegt. Zur Bülowstraße hin zeigte das Haus eine mit Stuckelementen reichlich dekorierte Neorenaissancefassade.

Während der Weltwirtschaftskrise geriet die Aktiengesellschaft in Schwierigkeiten, musste 1931 Konkurs anmelden und wurde 1938 aus dem Handelsregister gelöscht.

Bild: HWPH Historisches Wertpapierhaus AG

1897

Berühmt wurde die Adresse Bülowstraße 90 als Geschäftssitz des S. Fischer Verlages, der zunächst im Quergebäude seinen Sitz hatte. 1912/13 wurde ein zusätzlicher Seitenflügel für den Verlag im zweiten Hof errichtet.

Der aus Ungarn stammenden Verleger Samuel Fischer verstand sich als Wegbereiter einer „neuen demokratischen Cultur“. 1886 gründete er in Berlin seinen eigenen Verlag, mit dem Wunsch, ein breites Publikum für die moderne zeitgenössische Literatur gewinnen.

Samuel Fischers Verlag wurde vor dem Ersten Weltkrieg zum maßgeblichen deutschen Literaturverlag. Die Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann, Thomas Mann und Hermann Hesse hatten hier eine Berliner Geschäftsadresse und auch Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ wurde in der Bülowstraße 90 verlegt.

Der Verlag behauptete seine herausragende Stellung auf dem Buchmarkt der Weimarer Republik, bis die Nationalsozialisten die jüdische Eigentümerfamilie und die bedeutendsten Autoren aus Deutschland vertrieben. Seit 1. November 2011 erinnert eine Berliner Gedenktafel an der Straßenfassade an S. Fischer und seinen Verlag.

1909

Zu den Mieterinnen der ersten Stunde im Haus gehörten auch emanzipierte Malerinnen, die sich um 1900 einen Platz in der Kunstwelt erkämpften, wie Anna Lent und Julie Wolfthorn, die dort wohnten und im Dachgeschoss ihre Ateliers hatten.

Julie Wolfthorn stammte  aus einer jüdischen Familie und ließ sich ab 1890 in Berlin und Paris zur Malerin ausbilden. Im Herbst 1909 zog sie ins Haus Bülowstraße 90, dass sie „das Fischerhaus“ nannte. 1930 verkaufte sie ein Doppelporträt des Autors Gerhart Hauptmann und seiner Frau Margarete an den Verleger Samuel Fischer.

Im Oktober 1942 wurde Julie Wolfthorn gemeinsam mit ihrer Schwester Luise Wolf ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Dort starb sie im Dezember 1944. Eine neu angelegte Straße am Nordbahnhof wurde 2005 nach Julie Wolfthorn benannt.

1923

1923 verlegte die neue Miteigentümerin des Hauses, die David Grove AG, ihren Firmensitz in die Bülowstraße. Die Firma baute innovative Heizungs- und Sanitäranlagen. Sie ließ  das Vorderhaus der Bülowstraße 90 aufstocken und einen großen Teil des Fassadenschmucks entfernen.

1928 taucht im Berliner Adressbuch unter der Adresse Bülowstraße 90 erstmals der Verband O.R.T. e.V. auf. Dabei handelt es sich um ein jüdisches Berufsbildungswerk, das 1880 in Russland gegründet wurde und heute noch in 50 Ländern aktiv ist.

Ende 1928 zog die Bekleidungsfirma Hemdenmatz in die Bülowstraße 90 ein. Nach der Machtergreifung des Nationalsozialisten wurden die jüdischen Eigentümer aus dem Unternehmen gedrängt.

1930

Ab 1926 war der Architekt Richard Abraham Haupteigentümer der Immobilie Bülowstraße 90. Nach seinen Plänen entstand im 2. Hof ein neusachlicher Garagenanbau.

Die Familie von Richard Abraham wurde nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wegen ihrer jüdischen Herkunft systematisch um ihr Vermögen gebracht. Im Gefängnis wurde Abraham gezwungen, seinen Besitz am Haus Bülowstraße 90 an das Oberkommando der Marine zu übertragen. Im Gegenzug durfte er nach New York emigieren und änderte seinen Namen in Richard Arams. 1950 meldete er einen Anspruch auf Rückerstattung der Immobilie Bülowstraße 90 an. Erst nach seinem Tod wurde das Haus 1953 an seine Witwe rückübertragen.

1933

Moderne Außenwerbung mit Lichtreklame für Autos und Motorräder bestimmte seit den frühen 1930er-Jahren das Erscheinungsbild des Hauses in der Erdgeschosszone.

Der Laden eines Autoteilehändlers und ein Motorradladen flankierten damals den Treppenaufgang des Hauses. Die Inhaber des Motorradladens beantragten 1933 sogar die Anbringung eines gelb-roten Leuchtreklamekörpers mit der allbekannten Shell-Muschel an der Fassade – auf dem Hof konnten Motorradfahrer ihre heißen Öfen auftanken.

1944

In der NS-Zeit wurde das Haus militärisch genutzt. Der Luftkrieg richtete schwere Verwüstungen in der Umgebung an.

Das Reichsmarineamt wurde Hauptmieter und 1940 als Eigentümer ins Grundbuch eingetragen. Ganz in der Nähe verwandelte am 19. Juli 1944 der Luftdruck einer Bombe die Hochbahnlinie zwischen Bülowstraße und Nollendorfstraße in eine unbefahrbare Berg- und Talbahn.

Bild: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0518-028 / Fotograf: Bernd Settnik / Lizenz CC-BY-SA 3.0

1948

Nach dem Krieg zog die Polizeidienststelle 180 ins Haus ein und blieb dort bis in die 1980er Jahre.

Die Automobilfirma Herbst, die von 1948 an im Haus residierte und deren Schaufenster jahrzehntelang das Straßenbild an dieser Stelle prägten, ließ im Hinterhof Rolltore einbauen. So konnten Autos in zwei Werkstatträume fahren, um dort Autoradios und Fernmeldeablagen zu erhalten.

1950

In der Bülow90 wurden in den folgenden Jahren eine Buchdruckerei, eine Strickwarenfabrikation und Firmen für Bürobedarf, Büromaschinen, Bekleidung und Kunststoffverpackung ansässig.

Auch unterhielt hier die HaDeKa (Handelszentrale Deutscher Kaufhäuser), der damals führende Textileinkaufsverband in Deutschland, eine Niederlassung.

1971

Große Schlagzeilen machte die Bülowstraße 90 im Februar 1971. Mitarbeiter der Bauaufsicht entdeckten in einer Garage zwei Helikopter und alarmierten die Polizisten in der Dienststelle des Reviers 180 im Vorderhaus.

Beamte der Kripo, der Politischen Polizei und zwei Offiziere der amerikanischen Besatzungsmacht rückten an. Denn der nicht genehmigte Besitz und die Herstellung von Flugapparaten in West-Berlin waren nach alliiertem Recht strafbar. Sofort kam der Verdacht auf, die Apparate sollten der Vorbereitung eines Anschlags durch die Baader-Meinhof-Bande dienen.

Es handelte sich jedoch nur um die harmlosen Basteleien des 35-jährigen Tüftlers Klaus Treuter, der in der Berliner Pilotenszene bestens bekannt war. Er hatte seine Konstruktionen bereits öffentlich ausgestellt und war mit ihnen sogar unbehelligt über die Transitstrecken durch die DDR gefahren. Die Helikopter wurden beschlagnahmt und später an den Bastler zurückgegeben, der sie weiterverkaufte.

1985

1970 erwarb die gewerkschaftseigene Neue Heimat Berlin als Sanierungsträger im Auftrag des Senats das Haus Bülowstraße 90, doch zunächst passierte im Haus recht wenig.

1985 verschwanden der ehemalige Anbau für den S. Fischer Verlag und die Garagen aus den 1920er-Jahren. Nach dem Ende der Abrissarbeiten wurden die Straßen- und Hoffassaden der Bülowstraße saniert und der Innenhof in Anlehnung an die ursprüngliche Gestaltung neu begrünt.

2000

Im Jahr 2000 übernahm das landeseigene Wohnungsunternehmen Gewobag die Wohnungsbaugesellschaft WIR, Rechtsnachfolgerin der Neuen Heimat Berlin. Damit wurden die Bülowstraße 90 und die Nachbarhäuser Teil des Gewobag-Portfolios.

Seit 2008 trägt die Tochtergesellschaft WIR den Namen Gewobag WB Wohnen in Berlin GmbH. 2013 gründete die Gewobag die gemeinnützige Stiftung Berliner Leben, an die sie die Immobilie Bülowstraße 90 übertrug; verwaltet wird das Gebäude weiterhin von der Gewobag.

seit 2010

Die öffentliche Wahrnehmung des Hauses wurde von 2010 bis 2020 vor allem von den Kunstsälen Berlin bestimmt, die in einer ehemaligen Wohnung mit 360 Quadratmetern regelmäßig Gegenwartskunst zeigten.

Auch viele Künstler arbeiteten im Haus. Die Präsenz schwedischer Künstler brachte dem Haus hohen Besuch: Am 25. Mai 2011 war es Teil des offiziellen Besuchsprogramms der schwedischen Kronprinzessin Victoria und ihres Ehemannes Prinz Daniel in der deutschen Hauptstadt. In der Bülowstraße 90 besuchte das Paar den schwedischen Fotografen Magnus Reed, die Designerin Mika Modiggrad und die Sängerin Fanny Risberg, die im Innenhof mit ihrer Band Tula auftrat.


Die ganze Geschichte

Dies ist nur ein kleiner Auszug aus der bewegten Geschichte des Hauses in der Bülowstraße 90. Der komplette Bericht des Historikers Michael Bienert steht Ihnen hier kostenlos zum Download bereit:

Ihre persönliche Bülow90-Geschichte

Haben auch Sie persönliche Erinnerungen an das Haus in der Bülowstraße 90? Egal, ob Sie selbst dort einmal gewohnt, als Kind dort die Tante besucht oder Ihr Auto repariert haben. Wenn Sie Geschichten aus und über die Bülow90 kennen, lassen Sie es uns wissen und helfen Sie mit, die Geschichte des Hauses aufzuschreiben.

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